Das Phänomen Paul-Gerhard-Lieder. Noch eine Vorlesung zum Thema Passionslieder.
Wir waren bei Oh Haupt voll Blut und Wunden, dem bekanntesten der Passionslieder
Paul-Gerhard und hatten nur die erste Hälfte der zehn Strophen besprochen
bisher, Strophe eins bis fünf. Wir kommen also zur zweiten Hälfte, Strophe sechs
bis zehn, das ist auf dem handout mit den dreispaltigen Versionen, dann die zweite
Seite, Hymnus und Lied im Vergleich. Ich hatte schon deutlich gemacht, dass die
Gliederung Paul-Gerhards in seiner Liedübertragung dieser lateinischen
Vorlage anders ist als die Vorlage. Die Vorlage hat fünf Doppelstrophen und wir
sind jetzt also in der Mitte von Strophe drei und Paul-Gerhard macht aus fünf
Doppelstrophen zehn Einzelstrophen, macht aber eine Trennung in der Mitte, damit er
fünf plus fünf hat und die Trennung wird sprachlich ganz evident darin, dass
jetzt die Strophe sechs dezidiert beginnt mit ich will. In derselben Strophe, ich
habe es markiert, kommt noch zweimal will ich will ich. Wir kennen dieses ich will
will ich schon vom ersten Passionslied, mein Leben Tage will ich dich aus meinem
Sinn nicht lassen, dieser schönen vierten oder fünften Strophe. Wir kennen es vom
letzten Lied, Oh Welt sie hier dein Leben, wo wir auch diese hälftige
Proportionierung haben von 16 Strophen, acht Strophen, das Sakramentum, acht
Strophen, die Passion als Exemplum, was es für mich bedeutet Christus als Vorbild
zu nehmen mit der Redeform ich will will ich, nun ich kann nicht viel geben aber
will ich tun, ich will es vor Augen setzen und so weiter.
Ich habe extra jetzt unmittelbar vor dieser Vorlesung noch einen weiteren
theologischen Text, den es gibt, zur Kenntnis genommen. Es hat tatsächlich mal
ein systematischer Theologe, Traugert Koch in Hamburg 1991 in Kehr, Rügmar und
Dobmer einen Aufsatz über diese drei Passionslieder veröffentlicht, die ich
jetzt auch bespreche, eben diese drei die im Gesangbuch sind. Ob er auf diese
spezielle Redeform, das ich will eingeht, nein er tut es nicht. Ich habe tatsächlich
in der Literatur noch nirgendwo etwas gefunden, wo jemand sich reflektierend
speziell mit dieser dezidierten Redeform Paul Geherts ich will hier bei dir stehen,
von dir will ich nicht gehen, als dann will ich dich fassen, was ja wirklich ein
sehr dezidiertes Ich will ist, damit auseinandersetzt und dieses theologisch
deutet. Ich sehe, sorry ich, ich sehe das motiviert im Wesentlichen von der Redeform
der Psalmen. Ich hatte ja schon mal darauf hingewiesen, bei dem mein Leben
Tage will ich dich aus meinem Sinn nicht lassen, dass es ja dem Psalmvers gibt,
Psalm 104, Vers 33, ich will dem Herrn singen mein Leben lang und mein Gott
loben, solange ich bin. In meinem Theologiestudium habe ich im Vorlesungen
Altes Testament namentlich über die Psalmen gelernt, dass ein konstitutives
Element der Psalmen, gerade auch der Klagezahlen ist, dieses Gelübde in der
Form ich will. Es gibt auch ein signifikantes Beispiel, schon im Psalm 13,
dem kurzen, knappen und prototypischen Klagezahlen, mein Gott, wie lange willst
du meinen vergessen? Und dieser Psalm endet, der letzte Vers heißt, ich will
dem Herrn singen, dass er sowohl an mir tut.
Der andere prominente Psalm, wo dieses ich will gelübde sehr pointiert
formuliert ist, nämlich indem es auch noch mal wiederholt wird, ist Psalm 116.
Psalm 116 gilt als Musterbeispiel einer sogenannten Toda Psalms. Ein Danksalm
und Toda ist die Erinnerung, das ist ja die typische israelitische Form, sich an
Gott zu wenden, indem man sich erinnert an Zeiten des Unheils, an Zeiten der
Klage und dann wie Gott eine Wende herbeigeführt hat.
Dann kommt die Vertrauensaussage, dass man auf diesen Gott vertrauen kann und
dann das Gelübde, ich will dieses erinnern, ich will meinem Gott danken, solange ich
bin, denn er hat mich aus Not errettet. Also dieses dezidierte ich will scheint mir
Presenters
Zugänglich über
Offener Zugang
Dauer
00:36:39 Min
Aufnahmedatum
2020-05-20
Hochgeladen am
2020-05-24 13:16:28
Sprache
de-DE
Das Phänomen Paul-Gerhardt-Lieder II
Die Lieder von Paul Gerhardt (1607-1676) sind "Evergreens" trotz ihrer veralteten barocken Sprach- und Vorstellungswelt, trotz ihres oft schweren theologischen "Ballasts", trotz ihrer Überlänge. Die Vorlesung nimmt einzelne Lieder in Textgestaltung wie Melodiezuweisung genauer unter die Lupe, vermittelt historischen Hintergrund der Liedentstehung und gibt Einblicke in die Liedrezeption durch die Jahrhunderte in Gesangbüchern wie Kunstmusik.